Ab Yssin
Ab Yssin
Ab Yssin
postapokalyptisches Endzeit-Szenario
Jaana Redflower
Paperback, Format 4,8 x 21 cm, 252 Seiten
ISBN: 978-3-96174-061-1
VK: 11,95 Euro
April 2020
Edition Paashaas Verlag, www.verlag-epv.de
Ab Yssin - The Abyss within
Das ist der Abgrund, der in uns allen steckt. Nach dem Tod tritt
das Innere des Menschen zutage und wird zu einer Bedrohung für
die Lebenden.
Es ist gefährlich geworden, zu sterben.
Im endzeitlichen Europa wird deutlich, dass die Überreste der Zivilisation etwas Neuem weichen
müssen. Experimente mit den Ausgeburten der Apokalypse beginnen. Und immer wieder stellt sich die Frage:
Ist es möglich, sich die Menschlichkeit in so einer Welt zu bewahren?
Der Nachfolgeroman von «Der Tag, an dem die Vögel schwiegen»
Leseprobe
Zunächst ging es für die beiden abwärts. Zum zweiten Mal innerhalb von vierundzwanzig Stunden zwängten sie sich durch ein Loch, das in den Untergrund führte. Diesmal waren sie mit Taschenlampe, Karte und Messern ausgerüstet.
Natürlich maßen sie die Gänge nicht mit dem Zollstock; das wäre zu zeitaufwändig gewesen. Stattdessen zählten sie ihre Schritte.
«Zehn nach Norden. Jetzt müssten wir unterm Schaufelradbagger sein. Da, wo Bosch hoffentlich gleich auf uns wartet.»
Yv blickte angestrengt auf ihre Karte. «Zwei Kilometer nordöstlich liegt das Altenheim. Wir folgen dem Gang am besten erst nach Osten, bis er wieder einen Knick macht.»
«Hoffentlich tut er das bald. Sonst landen wir in den Ödlanden abseits der Stadt. Mit denen werden wir uns noch früh genug auseinandersetzen müssen.»
Sie liefen an einer Rinne entlang. Die war nun ausgetrocknet, aber sie stank sogar sechs Jahre später noch nach Jauche. Die linke Seite des Ganges war mit einer Art Flechte überzogen, grün auf bröckelndem Mauerstein.
Kally hielt an, um etwas davon in ein Tuch zu kratzen. «Heute steht Gossenspinat auf dem Speiseplan.»
«Klingt gut, aber bitte beeil dich. Die Kratzasseln nisten oft in der Nähe von Flechten. Aber wenn die uns sehen, beißen die sich schneller ein Stück aus deinem Arm, als du wegspringen kannst.»
Kally schabte schnell. Zufrieden knotete sie schließlich das Tuch zusammen und ließ es in der linken Hosentasche verschwinden.
Es ging bestimmt fünfhundert Meter geradeaus, ehe der Gang abbog.
«Nach Süden. Verdammt! Da will ich bestimmt nicht hin», fluchte Kally.
«Also erstmal zurück?»
«Nein, lass uns einen Blick riskieren. Wir suchen eh noch diese Endzeitsekte. Ohne Waffen mag ich mich im Altenheim nicht blicken lassen. Die haben bestimmt einige Aufpasser da. Mit denen werden wir sonst nicht fertig.»
«Vorausgesetzt, die bemerken uns. Ich hatte vor, mich ins Gebäude zu schleichen. Die Insassen werden uns nicht verraten.»
«Glaubst du?»
«Ich bin mir sicher. Die haben keinen Nutzen davon, uns auszuliefern.»
Kally machte ein Geräusch, das ihre Zweifel deutlich zum Ausdruck brachte.
Yv beruhigte sie. «Wir können es mit deiner Methode versuchen und erst nach Waffen suchen. Wenn uns jemand hilft, ohne uns zu verpfeifen, dann Delia. Ich hoffe nur, wir finden sie überhaupt.»
Kally machte ein grimmiges Gesicht. Es war nicht leicht, in den Irrwegen der Kanalisation jemanden aufzuspüren.
Sie waren froh, als der Gang nach wenigen Metern wieder östlich führte und dann, endlich, nach Norden.
«Keine Ahnung, wer für den Bauplan verantwortlich ist. Aber der gehört bestraft! Das läuft alles kreuz und quer irgendwohin. Dähat jemand einfach drauflos gebaut, ohne mitzudenken.»
«Ist halt mit der Stadt gewachsen. Da hatte keiner den Durchblick.»
Yv vermutete, dass sie sich nun auf den Turm zubewegten, den die Brigade aus Trümmern alter Gebäude aufgebaut hatte. Ihr wurde ein wenig mulmig beim Gedanken daran, dass Eisbeins Truppen direkt über ihnen patrouillierten.
Deren Schritte hörten sie nicht; dazu befanden sie sich zu weit unten. Stattdessen ertönte ein Tropfen.
«Was war das?» Auch Kally hatte es gehört. Ihre Augen irrten unsicher von einer Wand zur anderen.
Yv rang nach Worten. Ja, wonach klang es eigentlich? Jedenfalls nicht nach Wasser. Das Geräusch war härter und so hohl wie das Innere eines Schneckenhauses. Es trug auch etwas von dessen Rauschen in sich, das erklang, wenn man die Öffnung an sein Ohr legte und lauschte. Yv zeigte in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
Kally kniff die Augen zusammen, schüttelte den Kopf. «Ich seh nichts.» Mit starrem Blick fixierte sie die Richtung, aus der das Tropfen gekommen war, die Muskeln bis zum Anschlag gespannt.
Wie ein Gewehr, das gleich losschoss, überlegte Yv. Voller gefährlicher Munition. Sie zog ihre Freundin am Ärmel. «Mir gefällt das nicht; bitte, lass uns gehen.»
Das Geräusch ertönte zum dritten Mal, nun viel näher. Als ob das, was auch immer in der Dunkelheit auf sie gelauert hatte, sich an sie heranpirschte.
Da rannte Kally los. Yv ebenfalls. Ihr blieb keine Wahl, andernfalls hätte sie die Freundin aus den Augen verloren. Sie stolperte über die Reste eines Kriechers. Dessen Schuppen lagen quer über den Gang verteilt,
dazwischen schlängelte sich die Wirbelsäule. Yv machte zwei Sprünge, um den Anschluss nicht zu verlieren.
Als das Brodeln im Gang hinter ihnen begann, war sie froh darüber, Kally gefolgt zu sein. Etwas fraß dort. Schlürfte und schluckte. Der Schrecken fuhr ihr eiskalt in die Glieder.
Zu oft hatte sie Erzählungen über ein Gurgeln in der Nacht gehört, das kam, wenn jemand verendete. Ein Mensch, kein Tier. Manchmal der Geliebte im selben Bett, dessen Hand man am Abend zuvor noch gehalten hatte.
Hier unten musste es einen der Herumtreiber erwischt haben. Im Schlaf, wenn die Aufmerksamkeit nachließ, konnte es dem Träumenden ins Gehirn kriechen.
Ab Yssin.
Yv hoffte, dass es ihr nicht den Weg abschnitt. Sie wusste nicht, wie tief es bereits in die Wände der Kanalisation vorgedrungen war. Eine Pore in der Wand konnte für diese Abscheulichkeit zur Abkürzung werden.
Im Nachhinein fiel ihr erst auf, wie ruhig der Abschnitt im Untergrund gewesen war. Kally und sie waren nur zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt gewesen, um es zu bemerken. Kein Mensch, kein Stich. Die Flechte war das letzte gewesen, dem sie begegnet waren. Danach: nichts, bis zum Skelett. Sie hätten weitere Gewächse finden müssen, Insekten und Kadaver. Die waren jedoch allesamt im Inneren des Wesens verschwunden. Beim Gedanken daran, wie nah sie ihm gewesen waren, lief ihr ein weiterer Schauer über den Rücken.
Sie holte Kally erst drei Biegungen weiter ein. Vollkommen außer Atem war diese dort zusammengesackt. Yv sprang an ihre Seite. Sie hoffte, dass sie genug Abstand zwischen sich und das Dunkle gebracht hatten. Zumindest war das mahlende Geräusch leiser geworden.
«Der Abgrund kriegt mich nicht!», stieß Kally schließlich hervor, als sie nicht mehr ganz so sehr nach Luft schnappte. «Du musst mir versprechen, dass du das niemals zulässt!»
Yv nickte. Sie hockte sich an die Seite ihrer Freundin, redete ihr gut zu.
Das war auch nötig, denn Kally kannte das Teerwesen besser als sonst einer von ihnen. Zwar war es Knuddel gewesen, der Yv die Beschreibungen über das Brodeln geliefert hatte, wie das Wesen über alles Organische glitt, dabei niemals etwas zurückließ außer einer schwarzen, klebrigen Spur. Kally jedoch war ihm so nahe gekommen, wie es ging, ohne ein Teil davon zu werden.
Sie war mitten in der Nacht erwacht. Das Schlürfen hatte sie geweckt und das Gnatschen, mit dem es die Dielen verdaute. Auch, wenn sie zu diesem Zeitpunkt noch nichts über das Wesen gehört hatte, war es ein
Geräusch, bei dem man sofort das Unheil heraushörte. So hatte Kally es beschrieben. Yv erinnerte sich an die Worte ihrer Freundin, als hätte diese ihr erst gestern davon erzählt:
Drei Jahre war das her, in einer Sommernacht. Als Kally aufstand, war es bereits über ihre Schwelle gekrochen. Sie konnte nicht durch die Tür ins Freie; über die gesamte Länge des Flurs erstreckte sich eine schwarze Pfütze. Nur ein beherzter Sprung aus dem Fenster rettete sie.
Etwas war seither in dem Mädchen zerbrochen. Denn am Hauseingang hatte nur noch ihr Großvater sie in Empfang genommen. Ihre Eltern hatten sich unter dem Teer aufgelöst.
Yv zwang sich in Gedanken zurück zur Gegenwart, redete Kally gut zu. «Wir finden Knuddel. Und Mümmelchen auch. Und dann fliehen wir von hier, und es wird alles besser.»
«Ja, bestimmt.» Kally lächelte, aber in ihren Augen las Yv Entsetzen. Und eine Traurigkeit, bei deren Anblick ihr die Spucke sauer im Mund zusammenlief.